– München 1942 – Eine Frau denunziert die Eltern eines verlobten Paares wegen Kuppelei. Der Fall geht bis in die allerhöchste Ebene der Polizei. Heinrich Himmler entscheidet persönlich. Konsequenzen hat das vor allem für die Denunziantin und den ermittelnden Kriminalbeamten. Ein Beitrag zur Denunziation im Nationalsozialismus.

Die Denunziantin und der Kriminalsekretär – Teil 1.

27. April 1942

Therese M. sitzt in einem Raum der Kriminalpolizeileitstelle München. Ihr gegenüber sitzt Kriminalsekretär Näßl vom 15. Kommissariat. Therese M. schildert ihre Beobachtungen. Es geht um Familie H., die im gleichen Mietshaus wie Therese M. wohnt. Kriminalsekretär Näßl formuliert und protokolliert:

„Die Tochter der Eheleute H. muß aufgrund der geschilderten Umstände jedem anständig denkenden Menschen leid tun. Aus dem allgemeinen Aussehen der Tochter der Eheleute H. ist zu schließen, daß die Tochter vielfach geschlechtlich verkehrt und daß sich dieser Verkehr auf ihre Gesundheit schlecht auswirkt.“ (Anzeige von Therese M., erstellt von Kriminalsekretär Näßl als Strafanzeige, München, 27.04.1942, BArch, NS 19/383, Bl. 4 f.)

Im Raum der Kriminalpolizeileitstelle München steht am Ende nicht weniger als der Verdacht der schweren Kuppelei, ein Verbrechen gegen die Sittlichkeit (Reichsstrafgesetzbuch). Dabei wird den Eltern der 19-jährigen Charlotte H. vorgeworfen, das uneheliche Sexualleben ihrer Tochter mindestens zu dulden, wenn nicht gar aus Eigennutz zu fördern. Gegen die angeblich Beteiligten – einschließlich Charlotte H. und ihren Verlobten, den 32-jährigen Hans Joachim W. – wird ermittelt.

18. Mai 1942

Therese M. berichtet Kriminalsekretär Näßl erneut. Wiederholt werden die Vorwürfe gegen die Eltern von Charlotte H. protokolliert. Hierbei schildert sie oofenbar auch den folgenden Vorgang mit der Mutter von Charlotte H.:

„Am letzten Freitag, den 15.5.42, hat mich die Ehefrau H. mindestens 10mal als Denunziantin bezeichnet. Mir ist nicht bekannt, aus welchem Grunde mich Frau H. in dieser Weise beschimpfte.“ (Nachtrag zur Strafanzeige von Therese M., 18.05.1942, BArch, NS 19/383, Bl. 5.)

Es entwickelt sich ein Fall von Denunziation im Nationalsozialismus mit Folgen.

Hausdurchsuchung, Vorladung und Befragung der Familie H.

26. Mai 1942

Am Dienstag Morgen, um 6 Uhr 45, erscheinen Näßl und sein Kollege Schinhärl zur Kontrolle in der Wohnung der Familie H. Die beiden Kriminalbeamten überzeugen sich nun davon, dass Charlotte H. in ihrem Zimmer und ihr Verlobter in der Kammer schlafen. Anschließend fordern die beiden Beamten das Paar auf, mit auf die Polizeidienststelle zu kommen. Auch die Eltern von Charlotte H. werden vorgeladen. Ihre Mutter muss 8 Uhr 30 erscheinen, ihr Vater 10 Uhr.

Auf der Polizeidienststelle angekommen, wird Charlotte H. als Erste befragt. Die beiden Kriminalisten ermittelten zunächst danach, seit wann sich Charlotte H. und Hans Joachim W. kennen. Charlotte H. gibt zu Protokoll, sie und Hans Joachim W. hätten sich Mitte Mai 1941 kennengelernt und seien seit Anfang Dezember 1941 verlobt.

27. Mai 1942

Einen Tag später informiert Charlotte H. ihren Arbeitgeber über Ermittlungen der Münchner Kriminalpolizei. Sie berichtet unter anderem:

„Auf eine äußerst beschämende Art und Weise mußte ich Auskunft darüber geben, wo und wie oft ich mit meinem Verlobten in geschlechtlichen Verkehr getreten sei. In welcher Art unsittliche Betastungen vor sich gegangen seien. So beschämend an und für sich diese Fragestellung war, habe ich den beiden Kriminalbeamten entsprechend Antwort gegeben. Auf die Frage, ob wir uns hie und da allein im Zimmer befinden und küßen, konnte ich als Verlobte nur ein Lächeln unterdrücken.“ (Bericht Charlotte H. aus München, 27.05.1942, BArch, NS 19/383, Bl. 2.)

Die Denunziation der Denunziation im Nationalsozialismus – Oder: Das nationalsozialistische „Geschlechtsempfinden“.

30. Mai 1942

Der Arbeitgeber von Charlotte H. ist Reichsschatzmeister der NSDAP Franz Xaver Schwarz. Schwarz ist Wächter über die NSDAP-Parteifinanzen und wurde am 20. April 1942 von Adolf Hitler zum SS-Oberstgruppenführer der Allgemeinen SS befördert. Schwarz nimmt den kurzen Dienstweg und schreibt Reichsführer-SS Heinrich Himmler am 30. Mai 1942 einen Brief. Schließlich ist Himmler seit 17. Juni 1936 auch Chef der Deutschen Polizei.

 

Franz Xaver Scharz Schwarz an Heinrich Himmler, BArch, NS 19/383, Bl. 1.

Persönlicher Stab Reichsführer-SS
Schriftgutverwaltung.
|+Akten+||+Nummer+|293

DER REICHSSCHATZMEISTER DER NSDAP

München 33, den 30. Mai 1942

Verwaltungsbau der NSDAP

An den Reichsführer SS

Herrn Reichsleiter Heinrich Himmler

Persönlich!

Eigenhändig!

Berlin SW 11

Prinz Albrechtstr. 8

Sehr geehrter, lieber Parteigenosse Himmler!

Die in meinem Dienstbereich beschäftigte Stenotypistin Charlotte H. – 19 Jahre alt – übergab mir beiliegenden Bericht vom 27. Mai 1942, woraufhin ich von dem Polizeipräsidenten in München die Unterlagen zu diesem Vorgang einholte.

Wenngleich ich gegen die mit der Durchführung dieser ganzen Angelegenheit betrauten Beamten schon deshalb keinen Vorwurf erheben möchte, weil sie sich bei anderer Handlungsweise unter Umständen einer Disziplinierung ausgesetzt hätten, möchte ich doch, ausgehend von einem gesunden, nationalsozialistischer Anschaung entsprechendem Geschlechtsempfinden, feststellen, dass die ganze Art der Behandlung dieser Angelegenheit wohl äußerst merkwürdig berühren muss. Die Ausführungen der Therese M. zeigen deutlich das Gepräge übelster Schnüffelei und erfahren

 

durch die Behauptung des Vaters meiner Angestellten, dass Frau M. regelmäßige Kirchenbesucherin und Besucherin von Wallfahrtsorten ist, die passende Beleuchtung. Ob die sich aus der Niederschrift der Einvernahme ergebende Fragestellung einem gesunden Geschlechtsempfinden Rechnung trägt, möchte ich in hohem Maße anzweifeln. Ich halte es für angezeigt, dass Menschen, die über so viel Zeit verfügen, um ihre Mitmenschen dauernd zu überwachen und dann hieraus alle möglichen Schlüsse ziehen, besser einer der Kriegswirtschaft nutzbringenden Arbeit zugeführt werden. Aus den geschlechtlichen Beziehungen zweier junger Menschen aber eine Aktion zu machen, wie dies auf Grund von Schnüffeleien im vorliegenden Falle geschehen ist, dürfte sehr unplatziert sein. Zumal ein Verlöbnis besteht.

Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie von sich aus diese Angelegenheit überprüfen lassen würden. Die Zweitschrift der Kriminalpolizeileitstelle München bitte ich mir zur gegebenen Zeit wieder zuzuleiten.

 

|+NS-Grussformel+|

|+handschriftlich: Ihr

Schwarz+|

-Anlagen-

Die Denunziantin und der Kriminalsekretär – Teil 2.

12. Juni 1942

Heinrich Himmler antwortet Reichsschatzmeister Schwarz und verspricht ihm, in diesem Fall etwas zu unternehmen. Vor allem gegen die Denunziantin und den Kriminalsekretär.

 

Heinrich Himmler an Franz Xaver Schwarz, BArch, NS 19/383, Bl.  14.

Führerhauptquartier, 12. Juni 1942

AR/11/11/42

Persönlicher Stab Reichsführer-SS
Schriftgutverwaltung.
|+Akten+||+Nummer+|293

|Wiedervorlage 10.7|

Sehr verehrter, lieber Parteigenosse Schwarz!

Ihren Brief vom 30. Mai 1942 mit den Anlagen habe ich erhalten. Ich danke Ihnen sehr herzlich, daß Sie mich auf diesen Fall aufmerksam gemacht haben. Sie können versichert sein, daß erstens die Eltern H. und auch die Tochter mit ihrem Verlobten in Ruhe gelassen werden, daß zweitens die Denunziantin einer sehr gerechten Strafe zugeführt wird, und daß drittens der schuldige Beamte, der in einer derartig gemeinen Art die beiden Verlobten nach Details gefragt hat, verhaftet wird, was inzwischen bereits geschehen ist.

Die Zweitschrift der Kriminalpolizeileitstelle München gebe ich Ihnen mit einem abschließenden Bericht so bald als möglich wieder zurück.

|NS-Grußformel|

|handschriftlich: „Ihr getreuer“|

|Unterschrift: Heinrich Himmler|

Noch am gleichen Tag lässt Himmler seinem Vertreter in Bayern, dem Höheren SS- und Polizeiführer (HSSPF) Freiherr Friedrich von Eberstein, ein Schreiben zukommen.  Darin befiehlt der Reichsführer-SS, Familie H. und den Verlobten „außer Verfolgung zu setzen“.

Wesentlich deutlicher wird Himmler im Zusammenhang mit der Denunziantin, Therese M. Er bezeichnet sie als „Schnüfflerin übelster Sorte“ und beauftragt Eberstein persönlich, Informationen über die Frau einzuholen. Himmler möchte wissen, welchen Ruf Therese M. „genießt, wie alt sie ist, ob und wieviel Kinder sie hat.“ Sein Vorhaben:

„Ich habe vor, Frau M. wegen übler Nachrede auf mindestens 1 Jahr in ein Konzentrationslager einzuweisen und sie dort einer nutzbringenderen Beschäftigung zuzuweisen, als sie sie bis jetzt gehabt hat.“ (Heinrich Himmler an HSSPF Eberstein, 12.06.1943, BArch, NS 19/383, Bl. 17.)

Himmler, dessen SS- und Polizei-Kräfte zu diesem Zeitpunkt mordend durch Europa marschieren oder an Orten wie Belzec, Sobibor und Treblinka den Massenmord industrialisieren, äußert sich auch zu Kriminalsekretär Näßl. Dabei kommt er zu folgender Einschätzung:

„Der Beamte, der die ganze Vernehmung durchgeführt hat, ist sofort einzusperren. Gegen ihn ist ein Diszplinarverfahren einzuleiten. Was sich hier abgespielt hat, ist wirklich finsterstes Mittelalter. Fahren Sie hier mit eisernem Besen drein.“ (Heinrich Himmler an HSSPF Eberstein, 12.06.1943, BArch, NS 19/383, Bl. 17.)

20. Juni 1943

Wenige Tage später, am 20. Juni 1943, treffen sich Himmler und Eberstein persönlich. Sie sprechen über den Sachverhalt. Eberstein übergibt dabei Himmler seine eigene Stellungnahme und die des stellvertretenden Polizeipräsidenten von München, SA-Brigadeführer Franz Meyr. Auf beide Einlassungen entgegnete Himmler später:

„Der Kriminalsekretär Näßl wird von München wegversetzt. Zwischen Erfüllung der gesetzlichen Pflichten und perverser jesuitischer Schnüffelei gibt es noch viele Gradunterschiede. Daß von irgeneiner Stelle das Verhalten des Herrn Näßl überhaupt verteidigt werden konnte, ist mir unverständlich. Die Stellungnahme des stellvertredenden Polizeipräsidenten in diesem Fall verstehe ich nicht. Ebensowenig, daß Sie diese Stellungnahme in Ihrem Brief vom 20.6. sich zu eigen machen.“ (Vorlage Himmler an Eberstein, August 1942, BArch, NS 19/383, Bl. 33.)

 

20. Juli 1943

Vier Wochen nach seinem Treffen mit Himmler verfasst Eberstein ein Schreiben zum aktuellen Stand der Dinge.

„Der Krim.Sekretär Nässel ist dem Reichssichherheitshauptamt zum Einsatz in den Ostgebieten gemeldet und wurde bereits geimpft. Mit seiner Abordnung ist täglich zu rechnen.“ (HSSPF Eberstein an Himmler, 20.07.1942, BArch, NS 19/383, Bl. 25.)

 

15. August 1943

Therese M. sitzt in einem Raum der Kriminalpolizei, weil sie auf Anordnung Himmlers verhaftet wird und jetzt bis 18. August drei Tage Arrest verbüßt. Sie wird darüber belehrt, dass ihr bei wiederholter Denunziation Konzentrationslager-Haft droht. Anschließend muss Therese M. drei Monate in einem Rüstungsbetrieb arbeiten.

 

* Quelle Titelbild: Pixabay / Ilonadenktartig